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Kade wanderte tief in die eisige Wildnis, ließ das winzige Städtchen Harmony etwa vierzig Meilen hinter sich. So weit im Hinterland gab es für Menschen im Winter nur wenige Fortbewegungsmittel: Flugzeug, Hundeschlitten oder Schneemobil. Kade war zu Fuß unterwegs, den Ledersack und seine Waffen über die Schulter geworfen, und seine Schneeschuhe trugen ihn über Schneewehen, in die Normalsterbliche bis zu den Ohren eingesunken wären.

Der eisige Wind zerrte an ihm, als er steile Abhänge hinauf - und immer neue Senken hinunterrannte, mit einer übermenschlichen Geschwindigkeit und Ausdauer, wie sie nur Stammesvampire hatten.

Er fühlte sich mit Leib und Seele in Alaska heimisch, genoss die Kälte und das unwegsame Gelände, etwas, was seine eigene innere Wildheit in ihm wachrief - eine Wildheit, die sich schnell wieder in ihm erhob, jetzt, wo er in die vertraute Tundra seiner Heimat zurückgekehrt war.

Dem gefrorenen Koyukuk River in nördlicher Richtung zu folgen, bis etwa zu dem Ort, wo die Familie Toms gewohnt hatte, fiel ihm nicht schwer. Sobald er sich der Gegend näherte, wo die Morde geschehen waren, ließ er sich den Rest des Weges von seinem scharfen Geruchssinn leiten. Obwohl die Stürme der letzten Tage alles mit einer dicken, frischen Schneedecke überzogen hatten, war für einen Angehörigen seiner Spezies der schwache Blutgeruch immer noch im Wind spürbar und wies ihm wie ein Leuchtfeuer den Weg zum Schauplatz des Gemetzels.

Die Videos, die Gideon in Boston im Internet entdeckt hatte, hatten ihn einigermaßen auf seine Mission vorbereitet. Nach dem Bürgertreffen in der Kirche war er zum kleinen Flugplatz von Harmony gegangen, um einen Blick auf die Toten zu werfen, die dort im einzigen Hangargebäude auf Eis lagen.

Die Fleischwunden waren im Video schon grausig gewesen, und mit eigenen Augen aus der Nähe betrachtet, waren sie nicht besser - die Opfer waren praktisch ausgeweidet worden. Aber Kade hatte sich alles mit kühlem Kopf und objektivem Auge angesehen, und bei seinem Besuch in der provisorischen Leichenhalle hatte er nichts Überraschendes gefunden. Die Familie Toms war weder einem Tier noch einem Menschen zum Opfer gefallen.

Etwas anderes hatte sie abgeschlachtet... genau wie die junge Frau, diese hübsche braunäugige Blondine namens Alexandra Maguire, auf der Versammlung in der Kirche so nachdrücklich behauptet hatte.

Die war allerdings eine Überraschung gewesen. Groß, schlank und von einer natürlichen Schönheit, die ganz ohne Make-up auskam. Kade war verblüfft gewesen, als sie aufgestanden war und erklärt hatte, dass sie etwas Seltsames im Schnee gesehen hatte. Denn Kade hatte nichts von Zeugen gewusst, außer dem perversen Idioten, der das Video aufgenommen und ins Netz gestellt hatte. Eine der Hauptprioritäten seiner Mission für den Orden lautete, diese spezielle Problemquelle zu lokalisieren und zum Schweigen zu bringen. Das kam gleich nach der Priorität, den oder die Rogues zu identifizieren, die für die blutige Attacke verantwortlich waren, und dafür zu sorgen, dass der Gerechtigkeit mit kalter, schneller Hand Genüge getan wurde.

Aber nun war eine zusätzliche Komplikation aufgetaucht, in Form dieser Frau, Alex.

Als ob nicht schon alles kompliziert genug wäre. Was immer sie gesehen hatte, was immer sie über die Morde hier draußen in der Wildnis wusste - sie war ein Problem, mit dem Kade sich befassen musste, bevor sich die Dinge noch weiter verkomplizierten. Er konnte sich bei seinem Job weiß Gott Schlimmeres vorstellen, als attraktiven Blondinen Informationen zu entlocken. Viel Schlimmeres.

Wie zum Beispiel das, was da eben schemenhaft vor ihm in der Dunkelheit auftauchte - die Ansammlung von kleinen Blockhäusern und frei stehenden Schuppen, in der die Familie Toms gewohnt hatte. Kades Nasenflügel zuckten vom Geruch des alten Blutes unter der weißen Schneedecke, die über dem Anwesen lag. So, aus etwa hundert Metern Entfernung, wirkte die Szenerie pittoresk und friedlich. Ein ruhiger Außenposten in der Wildnis, der sich zwischen die Fichten und Birken der ihn umgebenden Nordwälder schmiegte.

Aber selbst in dieser Kälte hing der Gestank nach Tod über dem Ort und wurde intensiver, je näher Kade dem gedrungenen Blockhaus kam, das dem Pfad am nächsten lag. Er zog die Schneeschuhe aus und ging die beiden Verandastufen hinauf. Die Tür aus groben, handbehauenen Planken war zu, aber nicht abgeschlossen. Kade drückte die Klinke herunter, stieß die Tür mit der Schulter auf und stand auf der Schwelle.

Im schwachen Mondlicht, das um ihn herum ins Haus fiel, glänzte eine riesige gefrorene Blutlache wie schwarzer Onyx. Sein Körper reagierte prompt, der Anblick und Geruch der kristallisierten roten Zellen trafen ihn wie ein Hammer gegen den Schädel. Obwohl das Blut alt war und seiner Spezies, die sich nur aus den Adern lebendiger Menschen nähren konnte, nichts mehr nutzte, schössen Kade die Fangzähne aus dem Zahnfleisch.

Er zischte einen leisen Fluch. Seine Fangzähne fuhren sich immer weiter aus, als er den Kopf hob und noch mehr Blut sah -weitere Anzeichen von Kampf und Qualen: Aus dem Hauptraum des Blockhauses führte eine verschmierte, dunkle Blutspur den kurzen Flur hinaus. Eines der Opfer musste versucht haben, vor dem Raubtier zu fliehen, das gekommen war, um sie zu töten. Kade stellte seinen Ledersack und seine Schneeschuhe ab und ging den Flur hinunter. Durch seine Flucht ins hintere Schlafzimmer hatte der Mensch sein Schicksal nur besiegelt, denn dort war er in die Enge getrieben worden. Die grellen Blutspritzer an den Wänden und auf dem ungemachten Bett sagten Kade genug davon, mit welcher Brutalität auch dieses Opfer abgeschlachtet worden war.

Noch zwei weitere Menschen waren hier so grausam umgekommen, und Kade zog keinerlei Befriedigung daraus, als er den Rest der Ansiedlung abgegangen war und den genauen Verlauf der entsetzlichen Morde rekonstruiert hatte, Er hatte genug gesehen. Nun wusste er mit schrecklicher Gewissheit, dass diese Morde aus Blutgier begangen worden waren. Und wer immer diese Menschen abgeschlachtet hatte, hatte es mit einer Inbrunst getan, die alles überstieg, was er jemals zuvor gesehen hatte - nicht einmal die wildesten Blutjunkies taten so etwas.

„Du verdammtes Arschloch“, murmelte er. Mit vor Ekel verkrampftem Magen wandte er sich von der gespenstischen Ansiedlung ab und stapfte auf den umgebenden Waldgürtel zu. Jetzt brauchte er frische Luft. Er holte gierig Atem, sog den Geschmack des kalten Winters tief in seine Lungen.

Es genügte ihm nicht. Hunger und Wut hatten sich in ihn gekrallt wie Ketten, drückten ihm in der Hitze seines Anoraks und seiner Kleider die Luft ab. Kade riss sich seine Sachen vom Leib und stand nackt in der eisigen Novembernacht. Die kalte Dunkelheit besänftigte ihn etwas, aber nicht viel.

Er wollte rennen - musste rennen - und spürte, wie die kalten Arme der Wildnis Alaskas sich nach ihm ausstreckten, ihn umarmen wollten. In der Ferne hörte er Wolfsgeheul. Der Laut hallte tief in seinen Knochen wider, sang durch seine Venen.

Kade warf den Kopf zurück und antwortete.

Ein weiterer Wolf fiel ein, dieser bedeutend näher als der erste. Innerhalb von Minuten war das Rudel da, kam langsam durch das Fichtendickicht auf ihn zu.

Kade sah von einem wachen Augenpaar zum nächsten. Das Alphatier trat aus den Bäumen hervor, ein riesiger schwarzer Rüde mit einem zerfetzten rechten Ohr. Der Wolf näherte sich alleine, bewegte sich über die makellose weiße Schneefläche wie ein Schatten.

Kade blieb stehen, als zuerst der Anführer des Rudels und dann auch die anderen einen langsamen Kreis um ihn zogen. Er sah in ihre fragenden Augen und ließ sie telepathisch wissen, dass er ihnen nichts Böses wollte. Sie verstanden ihn, genauso wie er wusste, dass sie es tun würden.

Und als er ihnen stumm zu rennen befahl, rannte das Rudel los, in den dicken Vorhang der sternenhellen Wälder. Und Kade rannte mit, rannte mit den Wölfen wie einer von ihnen.

 

Irgendwo anders in der kalten, dunklen Nacht strich ein anderes Raubtier über das gefrorene, unwirtliche Gelände.

Er war schon seit Stunden in dieser leeren Wildnis unterwegs, seit mehr Nächten, als er sich erinnern konnte, allein und zu Fuß. Er hatte Durst, aber der Trieb war nicht mehr so drängend, wie er gewesen war, als er sich in die Kälte aufgemacht hatte. Sein Körper war nun gestärkt, seine Muskeln, Knochen und Zellen mit Kraft erfüllt von dem Blut, das er vor Kurzem zu sich genommen hatte. Zugegebenermaßen hatte er zu viel Blut zu sich genommen, aber sein Stoffwechsel erholte sich bereits von der Überdosis.

Und nun, da er stärker war, sein Körper belebt, fiel es ihm schwer, seinem Jagdtrieb zu widerstehen.

Denn das war es schließlich, was er war: ein Jäger in Reinform. Und seine Raubtierinstinkte erwachten, als die Stille der Wälder, durch die er schlich, vom rhythmischen Gang eines zweibeinigen Eindringlings gestört wurde. Der scharfe Geruch von Holzrauch und ungewaschener Menschenhaut drang ihm in die Nase, und unweit von dort, wo er in der Dunkelheit lauerte und wartete, materialisierte sich die dunkle Gestalt eines Mannes in einem dicken Anorak. Bei jedem seiner Schritte ertönte ein metallisches Klirren, es kam von den Stahlketten und scharf gezackten Wildfallen, die er in seiner behandschuhten Faust gepackt hielt. In der anderen baumelte ein totes Tier an den Hinterläufen, ein großes Nagetier, das er unterwegs ausgenommen hatte.

Der Fallensteller stapfte auf eine kleine hölzerne Schutzhütte zu, die weiter oben am Wildpfad lag.

Der Jäger beobachtete ihn, als er an ihm vorbeiging, völlig ahnungslos, dass er mit gierigem Interesse beobachtet wurde.

Einen Augenblick lang überlegte der Jäger, ob er seine Beute in der winzigen Schutzhütte in die Ecke treiben oder sich zwischen den Bäumen und Schneewehen ein wenig Sport gönnen sollte.

Er entschied sich für Letzteres, trat aus der Deckung seines Beobachtungspostens und machte ein tiefes Geräusch hinten in der Kehle - teils Warnung, teils Aufforderung an den jetzt aufgeschreckten Menschen loszurennen.

Der Fallensteller enttäuschte ihn nicht.

„Oh, Himmel. Was in Gottes Namen ...“ Sein bärtiges Gesicht erbleichte vor Angst, der Mund stand ihm auf. Er ließ seine armselige Jagdbeute in den Schnee fallen und stolperte entsetzt auf den Wald zu.

Der Jäger kräuselte in Vorfreude auf die Jagd seine Lippen und bleckte die Fangzähne.

Er gewährte seiner Beute einen sportlichen Vorsprung, dann nahm er die Verfolgung auf.

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